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Sonntag, 13. Dezember 2015

Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Das Glöckchen

Es begab sich vor langer Zeit. Dicht fiel der Schnee in der bitterkalten Dezembernacht auf die hohen Wipfel der Tannen. Kein Geräusch drang durch den tiefen Schnee zu dem kleinen Haus am Waldesrand. Dort lebte die achtjährige Rosemarie mit ihrer alten Großmutter.
Rosemarie stand am Fenster und schaute den tanzenden Schneeflocken zu, während die Großmutter das Essen zubereitete. Plötzlich vernahm Rosemarie ein helles Klingeln. Zunächst dachte sie, sie hätte sich getäuscht, doch da war es schon wieder, sie konnte es deutlich vernehmen.
„Großmutter, Großmutter!“ Mit langsamen, schlurfenden Schritten näherte sich diese dem Fenster. „Was ist denn mein Kind?“ „Komm, komm schnell. Ich habe ein Glöckchen gehört.“ „Ein Glöckchen? Aber Rosemarie, wo soll denn hier ein Glöckchen herkommen? Hier ist doch weit und breit Niemand.“
„Doch Großmutter. Ich habe es sehr deutlich vernommen. Es war zwar sehr leise aber ich habe es gehört. Es kam von dort, wo der Weg in den Wald führt.“
Sie wies mit ihrer kleinen Hand in die angegebene Richtung.
„Ach, meine Kleine. Du hast dich bestimmt verhört. Da draußen ist doch nichts. Komm jetzt zum Essen, sonst wird es noch kalt und das wäre sehr schade.“
Aber Rosemarie hörte nicht auf ihre Großmutter, warf sich ihren Wollumhang über die Schultern, nahm die Laterne vom Haken neben der Tür, öffnete diese und stapfte in den hohen Schnee hinaus. Sie richtete den Lichtschein auf den Waldweg der zu ihrer Hütte hinauf führte.
Zuerst konnte sie nichts erkennen, ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Langsam ging sie Schritt für Schritt weiter. Plötzlich erschrak sie. Beinah hätte sie die Laterne fallen gelassen. 
 
 
Zwei funkelnde Augen, hell wie Bernstein, leuchteten ihr entgegen. Sie hob die Laterne noch etwas an und erkannte dann ein kleines, schwarzweiß geflecktes Kätzchen. Es sah sehr abgemagert aus und schaute sie verschreckt an. Rosemarie erkannte, dass dieses Kätzchen um den Hals ein rotes Band trug und an diesem Band hing ein kleines Glöckchen. Langsam und vorsichtig näherte sich Rosemarie ihm. Doch sobald sie einen Schritt nach vorn machte, sträubte das Kätzchen sein Fell und scheute zurück. Mit leiser Stimme sagte Rosemarie: „Hallo, wo kommst denn du her? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich tue dir nichts. Ich möchte dir helfen. Du siehst aus, als ob du schon länger keine richtige Mahlzeit mehr bekommen hättest.“
Das Kätzchen legte den Kopf schief, als ob es jedes Wort verstehen würde, miaute kleinlaut und ließ es zu, dass Rosemarie sich ihm näherte. Aber das struppige Fell sträubte sich immer noch. Behutsam streckte Rosemarie ihre kleine Hand aus um es zu streicheln und das Kätzchen ließ es zu. Schaute aber immer noch etwas ängstlich aus seinen großen leuchtenden Augen. Doch schließlich legte sich das struppige Fell und es fing sogar an zu schnurren.
Schließlich nahm Rosemarie das Kätzchen ganz behutsam auf den Arm. Sie konnte spüren, wie abgemagert es war. Eng schmiegte sich der ausgemergelte kleine Körper an den ihren. „Gleich wird dir wieder warm werden und dann bekommst du auch etwas Leckeres zu essen, “ flüsterte Sie dem Kätzchen ins Ohr.
Schnell lief sie zur Hütte zurück, trat ein und setzte sich mit ihrem Findelkind an den großen Kachelofen.
„Wen hast du denn da gefunden?“ fragte ihre Großmutter und sah mit traurigem Blick auf den armseligen Körper. Sie schlurfte zum Küchenschrank und nahm eine kleine Schüssel heraus, stellte sie vor den Ofen und gab etwas Milch hinein.
Rosemarie setzte das Kätzchen auf den Boden und zog die Schüssel etwas näher heran. Vorsichtig näherte sich das Kätzchen, schnupperte, lief um die Schüssel herum und fing langsam an zu schlecken. Rosemarie strahlte ihre Großmutter an. „Na, dir schmeckt es aber sehr gut. Friss dich nur richtig satt.“
Die Großmutter neigte denn Kopf, „wo es wohl her kommt? Es sieht sehr abgemagert aus. Ob es ausgesetzt wurde?“
„Tja, es muss weit gelaufen sein, der nächste Hof ist hinter dem Wald.“
Die Großmutter streichelte das Kätzchen und schaute Rosemarie an. „Was machen wir denn nun mit ihm?“
Rosemarie sah sie mit flehenden Augen an. „Können wir es nicht behalten? Wir können es doch nicht in den Schnee zurückschicken. Es würde elend eingehen.“
„Schon gut, schon gut“, lachte ihre Großmutter, „das würde ich auch nicht übers Herz bringen. Wo zwei satt werden, wird auch noch ein dritter satt.“
Rosemarie sprang auf, nahm ihre Großmutter in den Arm und sprach mit tränenerstickter Stimme: „Danke, danke, danke.“
„Kind, nicht so stürmisch, du erwürgst mich ja noch. Schließlich kann es sich, wenn es älter ist, mit der Jagd auf Mäuse nützlich machen.“
„Ich verspreche dir, ich werde mich gut um es kümmern.“
„Nun da wir das geklärt hätten, wie willst du es denn nennen?“
Rosemarie hob das Kätzchen auf und setzte sich an den Küchentisch. Nachdenklich streichelte sie das struppige Fell. Dann sah sie ihre Großmutter an.
„Ich denke, ich werde es Glöckchen nennen. Ja, das ist genau der richtige Name, wenn man bedenkt wie ich es gefunden habe.“
„Mmmhh, ja ich denke das passt. Also, Rosemarie und Glöckchen, lasst uns zu Abend essen.“

Es vergingen die Tage. Weihnachten kam immer näher und Glöckchen erholte sich zusehends. Es wurde größer und kräftiger. Als Rosemarie und ihre Großmutter eines langen Winterabends, kurz vor Weihnachten, am Kachelofen saßen, das Kätzchen zu ihren Füßen, hörte Rosemarie ein Geräusch. „Großmutter, ich habe draußen etwas gehört.“ Die Großmutter sah auf und legte ihr Strickzeug zur Seite. „Bist du sicher? Ich kann nichts hören.“
Rosemarie stand auf und lief zum Fenster. Sie sah in die verschneite Nacht hinaus und konnte bei dem dichten Schneetreiben zunächst nicht viel erkennen. Aber irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, das da draußen jemand war. Angestrengt versuchte sie das Schneegestöber mit den Augen zu durchdringen. Um ihre Beine schmiegte sich Glöckchen und schnurrte zufrieden vor sich hin. Plötzlich blieb es stehen, lauschte, lief zur Tür und miaute lautstark los. Jetzt stand auch die Großmutter aus ihrem alten Schaukelstuhl auf und schlurfte zum Fenster. Sie stellte sich hinter Rosemarie und schaute mit zusammengekniffenen Augen hinaus.
„Ich kann nichts erkennen. Hast du schon etwas entdeckt?“
„Nein, bisher nicht, aber Glöckchen benimmt sich so komisch, findest du nicht?“
Plötzlich tauchte aus den dichten Schneeflocken eine Gestalt auf. In der Hütte hielten beide den Atem an. Sie kam immer näher auf das Häuschen zu. Da rief Rosemarie: „Das ist der Bauer Klöpfel. Schau Großmutter, aus dem Nachbardorf.“
Die Großmutter sah genauer hin. Tatsächlich, es war Alois Klöpfel. Sie schlurfte zur Tür. Bauer Klöpfel lehnte gerade seinen Wanderstock an die Hüttenwand und klopfte sich den Schnee von den dicken Stiefeln. „Hallo ihr zwei, “ rief er, drückte Rosemarie herzlich an seine Brust und gab der Großmutter einen kräftigen Händedruck. „Hallo Alois, was führt sie bei diesem Wetter zu uns?“
„Nun, ich wollte mal sehen, wie es euch geht. Ob ihr noch nicht eingeschneit seid. Schließlich schneit es schon seit Tagen ununterbrochen. Ich dachte, ich sehe mal nach dem Rechten.“
„Ach, uns geht es gut. Schauen sie mal was ich im Wald gefunden habe, “ rief Rosemarie und hob Glöckchen auf ihren Arm.
„Oh, die ist aber niedlich.“ Der Bauer wandte sich an die Großmutter: „Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich gekommen bin Oma Gangler. Es war ein Mann auf unserem Hof. Er hat nach euch gefragt. Er kam mit einem großen Schlitten der von sechs Rentieren gezogen wurde und hoch beladen war. Er hatte einen langen Bart und einen knöchellangen Mantel an. Ich habe versucht herauszubekommen was er von euch will, doch er schwieg sich in dieser Richtung aus. Er bat mich, ihm den Weg zu beschreiben. Ich habe mich sofort auf die Socken gemacht, über meine Schleichwege, quer durch den Wald, um eher hier zu sein. War er schon hier?“
„Nein“,  antwortete die Großmutter, „hier war niemand. Wir haben seit Tagen keine Menschenseele gesehen.“
„Dann bin ich ja noch rechtzeitig gekommen, um euch zur Vorsicht zu mahnen. Er machte zwar einen sehr netten Eindruck, aber man weiß ja nie. Er erwähnte noch, dass er etwas verloren hätte.“
Die Großmutter stemmte die Hände in die Seiten. „Tja, wenn er etwas will, wird er schon kommen. Bei uns ist nichts zu holen. Wir bieten ihm gern einen Platz an unserem Kachelofen und eine heiße Suppe an. Komm Alois, setzen sie sich zu uns an den Ofen und wärmen sie sich auf.“
„Ja, Großmutter, gib ihm doch eine Tasse von deiner leckeren heißen Schokolade.“
„Oh, das wäre schön, die wärmt mich bestimmt von innen wieder auf.“
Der Bauer setzte sich auf die Ofenbank und nahm dankend die Tasse mit der dampfenden Schokolade entgegen. Rosemarie und ihre Großmutter setzten sich zu Bauer Klöpfel und alle drei spekulierten noch eine Weile über den fremden Mann.

 

Wie sie da noch saßen und rätselten, was dieser Mann wohl von ihnen wollte, hörten sie draußen plötzlich helle Schellen erklingen. Gefolgt von einem lauten „Hoooohhh!“
Die drei sahen sich erstaunt und auch ein klein wenig erschrocken an. Dann klopfte es lautstark an die Tür. Klong, klong, klong!
Es war laut, bestimmend, aber auch irgendwie freundlich.
Als erste erwachte die Großmutter aus ihrer Erstarrung. Sie schlurfte zur Tür, dicht gefolgt von Rosemarie. Vorsichtig öffnete sie diese und draußen stand der Mann, den Bauer Klöpfel beschrieben hatte. Rosemarie versteckte sich hinter ihrer Großmutter und schlug ihre kleine Hand ängstlich vor den Mund.
Der Mann begann mit einer tiefen wohltönenden Stimme zu sprechen: „Guten Abend Großmutter Gangler, hallo Rosemarie, ach, und Bauer Klöpfel ist auch da. Das ist schön, dass ich sie hier wiedertreffe.“
Er schaute auf die Großmutter herab, lächelte und reichte ihr seine große Hand.
Freundlich fragte er: „darf ich eintreten?“ Mit einem herzlichen Händedruck schritt der Unbekannte große Mann an der Großmutter vorbei und betrat die Stube. Glöckchen wurde ganz unruhig auf Rosemaries Arm, fing an zu miauen und wollte unbedingt auf den Boden. Da sich das Kätzchen wie wild gebärdete setzte sie es ab. Kaum stand es auf seinen vier kleinen Pfoten lief es auf den großen Mann zu. Er fing an zu lachen und beugte sich, sichtlich überrascht, zu ihm hinunter. „Hier steckst du also. Ich habe dich im ganzen Land gesucht. Das ist ja eine tolle Überraschung.“
Rosemarie bekam den Mund vor Staunen nicht mehr zu. „Ist das etwa dein Kätzchen?“ Der Mann packte Glöckchen am Nacken und hob es auf seinen Arm. Er kraulte ihm den Nacken und es fing sofort an zu schnurren.
„Ja, ich habe es auf meiner langen Reise irgendwo verloren. Ich habe es leider erst zu spät bemerkt. Ich wusste nicht mehr, wo ich suchen sollte. Es war wie vom Erdboden verschwunden.“ Zu dem Kätzchen sagte er: „Ich bin so froh, dass ich dich wieder habe.“ Als ob Glöckchen ihn verstehen könnte, schmiegte es seinen Kopf an seine breite Brust. „Wie ist es hierhergekommen?“ fragte er an Rosemarie gewandt.
„Ich habe es im Wald vor unserer Hütte gefunden. Es war ganz ausgemergelt und sein Fell war ganz struppig. Ich bin durch das Glöckchen um seinen Hals auf es aufmerksam geworden. Wir haben es aufgenommen und wieder aufgepäppelt. Es hat sich schon sehr gut erholt.“
Der Mann brummte zufrieden. „Ja, das kann ich sehen. Es sieht sehr zufrieden aus.“
Die Großmutter bat den stattlichen Mann doch am Küchentisch Platz zu nehmen. Sie reichte auch ihm eine Tasse von ihrer leckeren heißen Schokolade. Da sie ihn alle mit großen Augen anschauten, begann der unbekannte, aber doch irgendwie faszinierende fremde Mann, seine Geschichte zu erzählen.
Er war in der ganzen Welt herumgereist und das alles mit seinem großen Rentierschlitten. Rosemarie bekam den Mund vor Staunen nicht mehr zu. All die tollen Geschichten aus den weit entfernten Städten. Auch die Großmutter und Bauer Klöpfel lauschten aufmerksam den Erzählungen des Mannes. Rosemarie schaute den Fremden verstohlen von der Seite an, sie wusste sicher, sie hatte ihn noch nie gesehen, und doch kam er ihr irgendwie bekannt vor.
Komisch, aber je mehr sie darüber nachdachte, umso vertrauter wurde er ihr. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, um diese absurden Gedanken zu verscheuchen. Der Mann beendete gerade seinen Reisebericht und stand auf.
„So, nun habe ich eure Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen. Aber bevor ich mich wieder auf den Weg mache, möchte ich euch noch etwas Gutes tun. Ihr habt so lieb auf mein Kätzchen geachtet und es behütet.“
Und mit einem Zwinkern in Rosemaries Richtung fügte er noch hinzu: „Und außerdem ist ja bald Weihnachten.“ Er stupste mit seinem Zeigefinger auf Rosemaries Nase. Sie musste unwillkürlich kichern.
„Ich gehe nur mal schnell zu meinem Schlitten, bin sofort wieder da.“ Sprachs
und verließ die Hütte. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte stapfte er durch den tiefen Schnee zu seinem Gefährt.
Die drei Menschen in der Hütte sahen sich an. „Unglaublich, aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich kenne ihn“, sinnierte Bauer Klöpfel und strich nachdenklich über seinen zotteligen Bart. Die Großmutter sagte gar nichts, nahm die Tasse des Fremden und stellte sie zum Abwasch in die Schüssel. Die Tür öffnete sich und der Fremde betrat wieder die Hütte. Über die Schulter hatte er einen großen Sack aus Jute geworfen, er war prall gefüllt. Er nahm ihn herunter und stellte ihn auf den Tisch in der Stube. „Hier sind ein paar Lebensmittel drin, die euch für einige Zeit durch den harten Winter bringen werden.“
Mit einem Augenzwinkern in Rosemaries Richtung fügte er noch hinzu: „und außerdem noch ein paar Süßigkeiten für dich.“
„Es sind auch noch einige nützliche Dinge enthalten. Ich hoffe, ich habe das Richtige eingepackt.“ Er stellte den schweren Sack neben den Kachelofen und wandte sich wieder den dreien zu. „So ihr Lieben, nun muss ich aber wirklich aufbrechen. Ich bin noch nicht am Ende meiner Reise.“ Er schritt auf die drei zu und gab einem nach dem anderen die Hand. „Ich wünsche euch ein friedvolles Weihnachtsfest und einen ruhigen Start in das neue Jahr.“ Mit diesen Worten winkte er allen zu und ging aus der Tür, die schwer hinter ihm ins Schloss fiel. Die drei Zurückgelassenen schauten sich einen Moment an und liefen dann zum Fenster. Aber obwohl es nicht mehr schneite konnten sie ihn draußen nicht entdecken. So angestrengt sie auch schauten. In der Ferne hörten sie leise Schellen klingen. Niemand von den dreien sagte etwas. Nach einer Weile sprach Rosemarie nachdenklich in die Stille hinein: „Glaubt ihr eigentlich an den Weihnachtsmann?“ Die Großmutter und Bauer Klöpfel schauten sich an, dann wieder aus dem Fenster und dann zu Rosemarie.
Draußen fiel wieder leise der Schnee………


E N D E