Ich war auf die Dachterrasse gegangen um zu rauchen, schaute dem
Sonnenaufgang über New York zu und hing
meinen Gedanken nach. Hannah war schon
vor einiger Zeit ins Bett gegangen. Wir hatten fast die ganze Nacht geredet und
sie war müde, was ich gut verstehen konnte. Sie hatte mir nicht nur das am
besten gehütete Familiengeheimnis verraten, sondern mir auch ihre Seele
offenbart. Sie hatte über lang verdrängte Gefühle gesprochen und obwohl sie mir
versicherte, das es ihr gut ginge, hatte ich doch den Eindruck, daß es sie mitgenommen hatte.
Das Ende der Geschichte war wenig spektakulär. Hannah hatte Mandy nie mehr wiedergesehen. Sie war nach
Paris verschwunden und hatte ihr nichts hinterlassen. Hannah hatte die Vermutung, das Mandy glaubte, sie würde sich gegen den Umzug
nach Paris entscheiden. So hatte sie ihr die Entscheidung abgenommen.
Das stimmte mich ein wenig traurig. Ich schaute auf die verblassenden
Lichter der Stadt und dachte an Cassie.
Ich hatte plötzlich so große Sehnsucht nach ihr, wie ein körperlicher Schmerz.
Ich nahm mein Handy und wählte ihre Nummer.
Es klingelte einige male, bis sich schließlich eine verschlafene Stimme
am anderen Ende meldete.
"Hallo Schlafmütze." Pause. "Sandy, bist du das?" Ich musste lächeln.
"Wen hast du denn sonst erwartet?"
Pause. Ich hörte Cassie herzhaft
gähnen. "Hast du mal auf die Uhr geschaut? Es ist kurz vor fünf Uhr."
"Nein, sorry, habe ich
nicht. Ich hatte plötzlich nur ein wahnsinnig großes Verlangen nach dir."
Pause. "Dann hättest du einfach vorbei kommen sollen."
"Du ahnst ja nicht, wie gern ich das jetzt machen würde. Aber ich
möchte Hannah nicht allein lassen. Wir
haben bis vor einigen Minuten noch geredet. Ich kann es gar nicht abwarten, dir
das alles zu erzählen."
"Süße, kann das bis Morgen warten? Ich würde jetzt gern
weiterschlafen." Und nach einer kurzen Pause: "Da du ja doch nicht
kommst." Ich konnte ihr verschmitztes Grinsen regelrecht vor meinem
inneren Auge sehen.
"Ja Süße, natürlich, bitte verzeih' mir, das ich dich geweckt habe.
Wir sehen uns Morgen."
"Baby, du kannst mich jederzeit anrufen, das weißt du doch. Schlaf
gut, bis Morgen."
"Schlaf du auch gut. Und träum
was Schönes, vorzugsweise von mir." Ich legte auf.
Ich ging wieder hinein und räumte die Gläser und den Wein weg. Dann
musste auch ich herzhaft gähnen und ging zu Bett. Aber ich konnte nicht
einschlafen. Hannah's Geschichte ging mir immer wieder durch den Kopf. Nach
einiger Zeit fiel ich in einen Traumlosen Schlaf.
Am Morgen weckten mich Geräusche aus der Küche. Ich sah auf die Uhr an
meinem Bett. 10.23 Uhr. Ich ließ mich stöhnend zurückfallen. Die Tür wurde
vorsichtig geöffnet. Ich machte ein Auge auf und sah in Hannah's strahlendes
Gesicht. "Guten Morgen Kleine! Hast du gut geschlafen? Ich hab Frühstück
gemacht, komm, setz dich zu mir. Der
Kaffee ist schon fertig."
Ich ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken und versuchte wach zu
werden. Es wollte nicht so richtig gelingen. Also schwang ich meine Beine aus
dem Bett und ließ langsam den Rest des Körpers folgen. Verschlafen und mit
zerzausen Haaren schlurfte ich in die Küche.
"Guten Morgen Hannah."
"Guten Morgen mein Schatz. Wie geht es dir?"
Ich sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. "Oha, so schlimm?"
"Wie ich sehe geht es dir richtig gut."
Hannah lachte ihr helles
sympathisches Lachen und reichte mir einen Becher Kaffee.
Ich nahm den Kaffee und schlurfte an ihr vorbei. "Ich brauch jetzt erstmal eine Kippe dazu."
Hannah folgte mir mit einem
Kaffee auf die Terrasse. Sie setzte sich neben mich. "Gib mir auch
eine."
Ich schaute sie verdutzt an. "Seit wann rauchst du denn?"
Hannah grinste mich an.
"Ach, Mädchen, glaubst du, ich habe in meinem Leben nur eine Dummheit
begangen?"
Ich reichte ihr mein Päckchen Zigaretten und wir steckten uns beide eine
an. Kaffee trinkend und rauchend saßen wir nebeneinander und schauten auf die
Stadt.
"Mit der Dummheit meinst du, das du dich auf Mandy eingelassen hast, nicht wahr?"
Hannah schaute mich an.
"Nein, die Dummheit war, das ich nichts unternommen habe, um sie
wiederzufinden."
"Also hast du sie doch vermisst?"
"Und wie. Ich wusste am Anfang nicht wohin mit meinem Schmerz. Aber
der Mensch gewöhnt sich an alles und Erinnerungen verblassen irgendwann. Doch
letzte Nacht war wieder alles da. Als ob es erst gestern war. Es war wieder
alles so real. Für mich sehr überwältigend."
"Es hat dich getroffen?" Ich zog an meiner Zigarette.
Hannah trank einen Schluck
Kaffee und sah mich an.
"Nein, es hat gut getan endlich mit jemandem darüber zu
reden."
Wir schwiegen eine Weile. Ich hatte noch so viele Fragen, doch ich
wollte sie nicht überfordern.
Dann spürte ich ihren Blick auf mir ruhen. Ich sah sie an. "Dir
brennt doch bestimmt noch etwas auf der Seele."
"Na ja, ein paar Fragen
hätte ich da schon noch."
"Dann schieß doch einfach
los."
"Bist du sicher?" "Aber ja. Es macht mir jetzt nichts
mehr aus, darüber zu reden."
Ich schaute auf die Stadt und dachte an Cassie.
"Hattest du nach ihr noch andere Frauen?" Doch dann bekam ich
ein mulmiges Gefühl. "Sorry, wenn
ich zu direkt bin brauchst du mir nicht zu antworten."
Hannah lachte. "Wie du
weißt, hat es mir noch nie etwas ausgemacht über schlüpfrige Dinge zu
reden."
Ich musste auch lachen. "Ja, das stimmt. So eine coole Tante wie dich gibt es so schnell nicht
wieder."
Sie nahm mich in den Arm und drückte mich ganz fest an sich. "Ach
Kleine, ich hab dich wirklich lieb. Wir beide sind uns in gewissen Dingen so
ähnlich."
Ich musste lachen. "Und in einem ganz speziell."
Ich steckte mir noch eine Zigarette an und bot auch Hannah eine an. Sie nahm sie und wir beide
lachten Lauthals.
"Nun, um deine Frage zu beantworten, ja, ich hatte nach Mandy noch andere Frauen. Und es war jedesmal
wieder neu und interessant. Leider war aber auch die eine oder andere dabei, na ja, darauf hätte ich gern
verzichtet."
"Oh, glaub mir, das kenne ich."
"Aber wie kam es, das du Onkel Jack
geheiratet hast? Wenn du doch eigentlich auf Frauen standest. Sorry, stehst. Oder?"
"Ja, ich mag nach wie vor Frauen." Sie schaute auf die Stadt.
Ich ließ sie in Ruhe nachdenken.
"Das mit deinem Onkel, das ist eine ganz andere Sache. Wie du
weißt, sind deine Großeltern sehr konservativ, das hat deine Mutter übrigens
von ihnen übernommen. Sie sind sehr religiös und aktiv in der Gemeinde in der
sie wohnen. Na ja, um es kurz zu
machen, als ich nach dem Studium wieder nach Hause kam, versuchte ich meinen
Eltern klar zu machen, das ich anders war. Denn in ihren Augen war lesbisch
sein eben anders sein." Hannah zog
an ihrer Zigarette.
Sie setzten mich moralisch unter Druck und irgendwann gab ich nach. Ich
ging den leichteren Weg. Heute würde ich es anders machen, aber damals war ich
finanziell noch abhängig von meinen Eltern. Manchmal hasse ich mich dafür, das
ich so feige war. Aber hinterher ist man ja immer schlauer. Deinen Onkel Jack kannte ich schon von der High School.
Er war schon damals sehr an mir interessiert. Mit ihm hatte ich auch mein
erstes Mal. Ich arrangierte mich mit dieser Ehe und war zufrieden, aber nie
richtig glücklich."
Ich legte meinen Arm um sie.
Hannah holte tief Luft.
"Versteh' mich nicht falsch, Jack
und ich hatten auch gute Zeiten. Nicht alles war schlecht. Aber ich habe ihn
nie geliebt. Respektiert ja, gemocht auch, aber nie geliebt."
"War das nicht sehr belastend für dich?"
"Nun, am Anfang schon, aber es wurde besser mit der Zeit."
"Wusste Onkel Jack, das du
nicht in ihn verliebt bist?"
"Ich denke er hat es irgendwann geahnt. Aber wir haben nie darüber
gesprochen. Wir haben uns gegenseitig respektiert und unterstützt. Das
war ok für uns."
Ich räusperte mich und trank von meinem Kaffee. "Wie war das mit
dem Sex?"
"Tja, das ist auch so eine
Sache. Wir hatten am Anfang natürlich Sex. Das war ich ihm schuldig. Er hatte
mich schließlich aus den Klauen meiner Eltern gerissen und er sah über meine
Eskapaden mit anderen Frauen hinweg."
"Das hat er mitgemacht? Tante Hannah,
da tun sich ja Abgründe auf." Ich lachte. Mein Gott, ich hatte ja wirklich
keine Ahnung.
"So schlimm war ich ja auch nicht. Ich war sehr diskret, ich denke,
das Jack nicht direkt etwas davon
mitbekommen hat. Aber wie gesagt, ich denke, er ahnte etwas. Aber er war so
verliebt in mich, das er damit leben wollte und wohl auch konnte. Manchmal
hatte ich schon Gewissensbisse. Aber ich konnte halt nicht gegen meine Natur
ankämpfen. So war es auch schön unverbindlich. Keine Fragen, kein klammern,
unverbindlicher Sex und tschüss."
Ich schaute meine Tante an. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen sahen
traurig aus.
"Und das hast du all die Jahre durchgehalten? Nicht mal als Onkel Jack im sterben lag habt ihr darüber
gesprochen?"
"Halt mich bitte nicht für herzlos. Nein, ich habe an seinem Sterbebett
gesessen, seine Hand gehalten bis er den letzten Atemzug getan hat und habe
dann", .............geweint. Bis ich keine Tränen mehr hatte. Er war mir
in all den Jahren ans Herz gewachsen, wie ein sehr guter Freund. Ich liebte ihn
auf meine Weise und ich trauerte auf meine Weise."
Hannah wischte sich eine Träne
aus dem Auge. Dann schaute sie mich an und lachte. "Ich hoffe, du denkst
jetzt nicht schlecht von mir."
Ich legte beide Arme um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
"Ich hab dich lieb Tante Hannah.
Ich würde nie schlecht über dich denken. Meine Meinung ist: Jeder hat das
Recht, seine eigenen Fehler und Erfahrungen zu machen."
"Du bist lieb."
Die Türklingel ging. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und schrak hoch.
"Das müsste Cassie sein.
Ich hab sie angerufen und zum Frühstück eingeladen. Ich hoffe das war ok?"
"Woher hattest du denn ihre Nummer?"
"Nicht nur du kannst ein Handy benutzen", meinte Hannah und zwinkerte mir zu.
Ich ging zur Tür und öffnete. Vor mir stand Cassie, so schön und frisch wie immer. Sie
hatte eine rote Rose in der Hand und überreichte sie mir.
"Die schönste Blume der Welt für die schönste Frau der Welt."
Mir wurde heiß, vor Verlegenheit. Wie kitschig und doch so romantisch.
Sie zog mich an sich und gab mir einen innigen Kuss. "Na du Nachtschwärmerin. Das nächste Mal, wenn
du mich so früh wach machst, erwarte ich dich persönlich." Sie grinste
mich verwegen an.
"Darauf kannst du dich verlassen. Komm doch erstmal rein, Hannah und ich haben schon mit dem Frühstück
angefangen."
Wir setzten uns an den Tisch, frühstückten ausgiebig, schwatzten über
Gott und die Welt, lachten viel und dann ging Hannah,
um ihren Koffer zu packen. Cassie und
ich würde sie heute zum Bahnhof bringen.
Während Hannah packte, hatte ich Cassie von der letzten Nacht berichtet.
Als ich die Geschichte beendete sagte sie: "Deine Tante ist eine mutige
Frau."
"Mutig? Sie findet, das sie feige gehandelt hat."
"Nein, es ist sehr mutig, auf die Liebe seines Lebens zu
verzichten, nur um es anderen Leuten recht zu machen. Einige mögen vielleicht
sagen, dass es der einfachste Weg für sie war, aber ich denke, daß es sie sehr
viel Mut gekostet hat."
Ich dachte einen Moment nach. "Ja, wenn man es so betrachtet, hast
du tatsächlich recht."
Cassie lächelte mich an. "Ich habe immer recht." Sie zwinkerte
mir zu.
Am späten Nachmittag fuhren Cassie und ich meine Tante zur Central
Station. Am Bahnsteig nahm sie mich noch einmal in die Arme, drückte mich fest
und flüsterte mir so leise, das Cassie es nicht hören konnte, ins Ohr:
"Warte nicht zu lange, deine Liebe zu Cassie auch öffentlich
einzugestehen. Sonst passiert dir das Gleiche wie mir."
Sie hielt mich ein wenig von sich weg und sah mir in die Augen.
"Sei nicht so feige wie ich." Ich sagte nichts und drückte sie stattdessen herzlich.
Meine Tante bestieg den Zug und suchte ihr Abteil. Sie öffnete das
Fenster um uns zum Abschied zu winken.
Der Zug fuhr los und Cassie ergriff meine Hand. Und einem alten Impuls
folgend entzog ich sie ihr sofort wieder. Schließlich waren wir hier ja in der Öffentlichkeit.
Cassie sah mich von der Seite an, aber ich traute mich nicht ihren Blick zu
erwiedern.
Der Zug entfernte sich aus dem Bahnhof und Cassie und ich gingen in
Richtung des Ausgangs.
"Deine Tante ist wirklich eine coole Socke. Und eine mutige Frau."
"Wenn du es sagst." Ich war in Gedanken schon wieder ganz
woanders.