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Samstag, 17. August 2013

Kapitel 6: Das Ende der Geschichte



Ich war auf die Dachterrasse gegangen um zu rauchen, schaute dem Sonnenaufgang über New York zu und hing meinen Gedanken nach. Hannah war schon vor einiger Zeit ins Bett gegangen. Wir hatten fast die ganze Nacht geredet und sie war müde, was ich gut verstehen konnte. Sie hatte mir nicht nur das am besten gehütete Familiengeheimnis verraten, sondern mir auch ihre Seele offenbart. Sie hatte über lang verdrängte Gefühle gesprochen und obwohl sie mir versicherte, das es ihr gut ginge, hatte ich doch den Eindruck, daß es sie mitgenommen hatte. 
Das Ende der Geschichte war wenig spektakulär. Hannah hatte Mandy nie mehr wiedergesehen. Sie war nach Paris verschwunden und hatte ihr nichts hinterlassen. Hannah hatte die Vermutung, das Mandy glaubte, sie würde sich gegen den Umzug nach Paris entscheiden. So hatte sie ihr die Entscheidung abgenommen.
Das stimmte mich ein wenig traurig. Ich schaute auf die verblassenden Lichter der Stadt und dachte an Cassie. Ich hatte plötzlich so große Sehnsucht nach ihr, wie ein körperlicher Schmerz.
Ich nahm mein Handy und wählte ihre Nummer.
Es klingelte einige male, bis sich schließlich eine verschlafene Stimme am anderen Ende meldete.
"Hallo Schlafmütze." Pause. "Sandy, bist du das?" Ich musste lächeln. "Wen hast du denn sonst erwartet?"
Pause. Ich hörte Cassie herzhaft gähnen. "Hast du mal auf die Uhr geschaut? Es ist kurz vor fünf Uhr."
"Nein, sorry, habe ich nicht. Ich hatte plötzlich nur ein wahnsinnig großes Verlangen nach dir."
Pause. "Dann hättest du einfach vorbei kommen sollen." 
"Du ahnst ja nicht, wie gern ich das jetzt machen würde. Aber ich möchte Hannah nicht allein lassen. Wir haben bis vor einigen Minuten noch geredet. Ich kann es gar nicht abwarten, dir das alles zu erzählen."
"Süße, kann das bis Morgen warten? Ich würde jetzt gern weiterschlafen." Und nach einer kurzen Pause: "Da du ja doch nicht kommst." Ich konnte ihr verschmitztes Grinsen regelrecht vor meinem inneren Auge sehen. 
"Ja Süße, natürlich, bitte verzeih' mir, das ich dich geweckt habe. Wir sehen uns Morgen."
"Baby, du kannst mich jederzeit anrufen, das weißt du doch. Schlaf gut, bis Morgen."
"Schlaf du auch gut. Und träum was Schönes, vorzugsweise von mir." Ich legte auf. 
Ich ging wieder hinein und räumte die Gläser und den Wein weg. Dann musste auch ich herzhaft gähnen und ging zu Bett. Aber ich konnte nicht einschlafen. Hannah's Geschichte ging mir immer wieder durch den Kopf. Nach einiger Zeit fiel ich in einen Traumlosen Schlaf.

Am Morgen weckten mich Geräusche aus der Küche. Ich sah auf die Uhr an meinem Bett. 10.23 Uhr. Ich ließ mich stöhnend zurückfallen. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Ich machte ein Auge auf und sah in Hannah's strahlendes Gesicht. "Guten Morgen Kleine! Hast du gut geschlafen? Ich hab Frühstück gemacht, komm, setz dich zu mir. Der Kaffee ist schon fertig." 
Ich ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken und versuchte wach zu werden. Es wollte nicht so richtig gelingen. Also schwang ich meine Beine aus dem Bett und ließ langsam den Rest des Körpers folgen. Verschlafen und mit zerzausen Haaren schlurfte ich in die Küche.
"Guten Morgen Hannah."
"Guten Morgen mein Schatz. Wie geht es dir?"
Ich sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. "Oha, so schlimm?"
"Wie ich sehe geht es dir richtig gut."
Hannah lachte ihr helles sympathisches Lachen und reichte mir einen Becher Kaffee.
Ich nahm den Kaffee und schlurfte an ihr vorbei. "Ich brauch jetzt erstmal eine Kippe dazu."
Hannah folgte mir mit einem Kaffee auf die Terrasse. Sie setzte sich neben mich. "Gib mir auch eine."
Ich schaute sie verdutzt an. "Seit wann rauchst du denn?"
Hannah grinste mich an. "Ach, Mädchen, glaubst du, ich habe in meinem Leben nur eine Dummheit begangen?"
Ich reichte ihr mein Päckchen Zigaretten und wir steckten uns beide eine an. Kaffee trinkend und rauchend saßen wir nebeneinander und schauten auf die Stadt.
"Mit der Dummheit meinst du, das du dich auf Mandy eingelassen hast, nicht wahr?"
Hannah schaute mich an. "Nein, die Dummheit war, das ich nichts unternommen habe, um sie wiederzufinden."
"Also hast du sie doch vermisst?"
"Und wie. Ich wusste am Anfang nicht wohin mit meinem Schmerz. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles und Erinnerungen verblassen irgendwann. Doch letzte Nacht war wieder alles da. Als ob es erst gestern war. Es war wieder alles so real. Für mich sehr überwältigend."
"Es hat dich getroffen?" Ich zog an meiner Zigarette.
Hannah trank einen Schluck Kaffee und sah mich an.
"Nein, es hat gut getan endlich mit jemandem darüber zu reden."
Wir schwiegen eine Weile. Ich hatte noch so viele Fragen, doch ich wollte sie nicht überfordern.
Dann spürte ich ihren Blick auf mir ruhen. Ich sah sie an. "Dir brennt doch bestimmt noch etwas auf der Seele."
"Na ja, ein paar Fragen hätte ich da schon noch."
"Dann schieß doch einfach los."
"Bist du sicher?" "Aber ja. Es macht mir jetzt nichts mehr aus, darüber zu reden."
Ich schaute auf die Stadt und dachte an Cassie.
"Hattest du nach ihr noch andere Frauen?" Doch dann bekam ich ein mulmiges Gefühl. "Sorry, wenn ich zu direkt bin brauchst du mir nicht zu antworten."
Hannah lachte. "Wie du weißt, hat es mir noch nie etwas ausgemacht über schlüpfrige Dinge zu reden."
Ich musste auch lachen. "Ja, das stimmt. So eine coole Tante wie dich gibt es so schnell nicht wieder."
Sie nahm mich in den Arm und drückte mich ganz fest an sich. "Ach Kleine, ich hab dich wirklich lieb. Wir beide sind uns in gewissen Dingen so ähnlich." 
Ich musste lachen. "Und in einem ganz speziell." 
Ich steckte mir noch eine Zigarette an und bot auch Hannah eine an. Sie nahm sie und wir beide lachten Lauthals.
"Nun, um deine Frage zu beantworten, ja, ich hatte nach Mandy noch andere Frauen. Und es war jedesmal wieder neu und interessant. Leider war aber auch die eine oder andere dabei, na ja, darauf hätte ich gern verzichtet."
"Oh, glaub mir, das kenne ich." 
"Aber wie kam es, das du Onkel Jack geheiratet hast? Wenn du doch eigentlich auf Frauen standest. Sorry, stehst. Oder?"
"Ja, ich mag nach wie vor Frauen." Sie schaute auf die Stadt. Ich ließ sie in Ruhe nachdenken.
"Das mit deinem Onkel, das ist eine ganz andere Sache. Wie du weißt, sind deine Großeltern sehr konservativ, das hat deine Mutter übrigens von ihnen übernommen. Sie sind sehr religiös und aktiv in der Gemeinde in der sie wohnen. Na ja, um es kurz zu machen, als ich nach dem Studium wieder nach Hause kam, versuchte ich meinen Eltern klar zu machen, das ich anders war. Denn in ihren Augen war lesbisch sein eben anders sein." Hannah zog an ihrer Zigarette.
Sie setzten mich moralisch unter Druck und irgendwann gab ich nach. Ich ging den leichteren Weg. Heute würde ich es anders machen, aber damals war ich finanziell noch abhängig von meinen Eltern. Manchmal hasse ich mich dafür, das ich so feige war. Aber hinterher ist man ja immer schlauer. Deinen Onkel Jack kannte ich schon von der High School. Er war schon damals sehr an mir interessiert. Mit ihm hatte ich auch mein erstes Mal. Ich arrangierte mich mit dieser Ehe und war zufrieden, aber nie richtig glücklich."
Ich legte meinen Arm um sie. 
Hannah holte tief Luft. "Versteh' mich nicht falsch, Jack und ich hatten auch gute Zeiten. Nicht alles war schlecht. Aber ich habe ihn nie geliebt. Respektiert ja, gemocht auch, aber nie geliebt."
"War das nicht sehr belastend für dich?"
"Nun, am Anfang schon, aber es wurde besser mit der Zeit."
"Wusste Onkel Jack, das du nicht in ihn verliebt bist?"
"Ich denke er hat es irgendwann geahnt. Aber wir haben nie darüber gesprochen.  Wir haben uns gegenseitig respektiert und unterstützt. Das war ok für uns."
Ich räusperte mich und trank von meinem Kaffee. "Wie war das mit dem Sex?"
"Tja, das ist auch so eine Sache. Wir hatten am Anfang natürlich Sex. Das war ich ihm schuldig. Er hatte mich schließlich aus den Klauen meiner Eltern gerissen und er sah über meine Eskapaden mit anderen Frauen hinweg."
"Das hat er mitgemacht? Tante Hannah, da tun sich ja Abgründe auf." Ich lachte. Mein Gott, ich hatte ja wirklich keine Ahnung.
"So schlimm war ich ja auch nicht. Ich war sehr diskret, ich denke, das Jack nicht direkt etwas davon mitbekommen hat. Aber wie gesagt, ich denke, er ahnte etwas. Aber er war so verliebt in mich, das er damit leben wollte und wohl auch konnte. Manchmal hatte ich schon Gewissensbisse. Aber ich konnte halt nicht gegen meine Natur ankämpfen. So war es auch schön unverbindlich. Keine Fragen, kein klammern, unverbindlicher Sex und tschüss."
Ich schaute meine Tante an. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen sahen traurig aus.
"Und das hast du all die Jahre durchgehalten? Nicht mal als Onkel Jack im sterben lag habt ihr darüber gesprochen?"
"Halt mich bitte nicht für herzlos. Nein, ich habe an seinem Sterbebett gesessen, seine Hand gehalten bis er den letzten Atemzug getan hat und habe dann", .............geweint. Bis ich keine Tränen mehr hatte. Er war mir in all den Jahren ans Herz gewachsen, wie ein sehr guter Freund. Ich liebte ihn auf meine Weise und ich trauerte auf meine Weise."
Hannah wischte sich eine Träne aus dem Auge. Dann schaute sie mich an und lachte. "Ich hoffe, du denkst jetzt nicht schlecht von mir."
Ich legte beide Arme um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Ich hab dich lieb Tante Hannah. Ich würde nie schlecht über dich denken. Meine Meinung ist: Jeder hat das Recht, seine eigenen Fehler und Erfahrungen zu machen."
"Du bist lieb."
Die Türklingel ging. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und schrak hoch.
"Das müsste Cassie sein. Ich hab sie angerufen und zum Frühstück eingeladen. Ich hoffe das war ok?"
"Woher hattest du denn ihre Nummer?" 
"Nicht nur du kannst ein Handy benutzen", meinte Hannah und zwinkerte mir zu.
Ich ging zur Tür und öffnete. Vor mir stand Cassie, so schön und frisch wie immer. Sie hatte eine rote Rose in der Hand und überreichte sie mir. 
"Die schönste Blume der Welt für die schönste Frau der Welt."
Mir wurde heiß, vor Verlegenheit. Wie kitschig und doch so romantisch.
Sie zog mich an sich und gab mir einen innigen Kuss. "Na du Nachtschwärmerin. Das nächste Mal, wenn du mich so früh wach machst, erwarte ich dich persönlich." Sie grinste mich verwegen an.
"Darauf kannst du dich verlassen. Komm doch erstmal rein, Hannah und ich haben schon mit dem Frühstück angefangen."
Wir setzten uns an den Tisch, frühstückten ausgiebig, schwatzten über Gott und die Welt, lachten viel und dann ging Hannah, um ihren Koffer zu packen. Cassie und ich würde sie heute zum Bahnhof bringen.

Während Hannah packte, hatte ich Cassie von der letzten Nacht berichtet. Als ich die Geschichte beendete sagte sie: "Deine Tante ist eine mutige Frau."
"Mutig? Sie findet, das sie feige gehandelt hat."
"Nein, es ist sehr mutig, auf die Liebe seines Lebens zu verzichten, nur um es anderen Leuten recht zu machen. Einige mögen vielleicht sagen, dass es der einfachste Weg für sie war, aber ich denke, daß es sie sehr viel Mut gekostet hat."
Ich dachte einen Moment nach. "Ja, wenn man es so betrachtet, hast du tatsächlich recht."
Cassie lächelte mich an. "Ich habe immer recht." Sie zwinkerte mir zu.
Am späten Nachmittag fuhren Cassie und ich meine Tante zur Central Station. Am Bahnsteig nahm sie mich noch einmal in die Arme, drückte mich fest und flüsterte mir so leise, das Cassie es nicht hören konnte, ins Ohr: "Warte nicht zu lange, deine Liebe zu Cassie auch öffentlich einzugestehen. Sonst passiert dir das Gleiche wie mir."
Sie hielt mich ein wenig von sich weg und sah mir in die Augen. "Sei nicht so feige wie ich." Ich sagte nichts und drückte sie stattdessen herzlich.
Meine Tante bestieg den Zug und suchte ihr Abteil. Sie öffnete das Fenster um uns zum Abschied zu winken.
Der Zug fuhr los und Cassie ergriff meine Hand. Und einem alten Impuls folgend entzog ich sie ihr sofort wieder. Schließlich waren wir hier ja in der Öffentlichkeit. Cassie sah mich von der Seite an, aber ich traute mich nicht ihren Blick zu erwiedern.
Der Zug entfernte sich aus dem Bahnhof und Cassie und ich gingen in Richtung des Ausgangs.
"Deine Tante ist wirklich eine coole Socke. Und eine mutige Frau."
"Wenn du es sagst." Ich war in Gedanken schon wieder ganz woanders.